Tor und Tod

Der 4. Juli 1954

Rote Fahnen - Rote Lippen

Tor und Tod
Der 4. Juli 1954

Geest Verlag
ISBN: 978-3-86685-551-9

9,80 € | ab Februar 2016

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Tor und Tod

Leseprobe

5. Minute: Schäfer zieht aus 16 Metern ab, verfehlt das Tor. Im Gegenzug die erste Ecke für die Ungarn.‘

6. Minute: Turek wehrt einen Schuss ab. Puskas platziert zum 1:0 für Ungarn. Der ungarischen Mannschaft ist das erste Tor geglückt.

Was wir befürchtet haben, das ist eingetreten. Der Blitzstart der Ungarn hat ihnen die Führung eingebracht. Ungarn schießt nach sechs Spielminuten durch Puskas, den Spielführer, das 1:0 (...) unhaltbar für Turek (...) Und nach dem Anspiel rollt die Angriffsmaschine der Ungarn schon wieder. Aber dieses Mal ist das steile Durchspiel von Kosic ins Aus gegangen.

Nun, vergessen wir nicht, Deutschland hat noch nie einen ähnlichen Erfolg errungen. Seit hundert Jahren spielt man organisiert Fußball, seit fünfzig Jahren gibt es einen Weltfuß­ball­­­verband (...) und noch nie war Deutschland im Endspiel. Es ist ein großer Tag, es ist ein stolzer Tag. Seien wir nicht so vermessen, dass wir glauben, er müsste erfolgreich ausgehen. Danken wir in jedem Fall, auch wenn wir verlieren sollten, unseren tapferen Jungens für diese großartige Leistung.

Einmal hatten wir Glück, als Koscis hinfiel, Kohlmeier spielte schlecht zurück zu Turek, der schon im Hinauslaufen war. Turek konnte das Leder nicht festhalten. Czibor, wie der Wirbelwind vom rechten Flügel aufgetaucht, dribbelte nach links hinüber, erzielt das 2. Tor für Ungarn. Ungarn führt 2:0, eine unerhörte Nervenbelastung für unsere Mannschaft. Schemenhaft sehe ich durch vier Glasscheiben hindurch Szepesi, meinen Kollegen aus Budapest. Ist die deutsche Elf schon k. o.? Wieder ein Debakel, kein Wunder in Sicht? Nach wenigen Minuten und den ersten Toren. Mancher ist enttäuscht und denkt, es kommt wieder so wie in Basel.

Immer, wenn ich an diesen einen Tag denke, so Gertrud, kommen mir wieder die Tränen, kann ich kaum sprechen, geht das Sprachproblem, das ich schon lange überwunden glaubte, wieder los. Versuchen will ich es trotzdem. Erinnern. Hervorholen, so genau wie möglich.

Es war ein sonniger Tag. Ich habe nach der Kirche in meinem Zimmer etwas Geige geübt. Ich spielte in einem Orchester und wir hatten uns viel vorgenommen. Schwierige, neue Stücke. Bach. Brahms. Beim Mittagessen kam der Anruf. Unsere Mutter war am Apparat. Sie war so seltsam, sprachlos irgendwie, atmete schwer, redete mühsam beherrscht, sagte: „Wir hatten einen Unfall, Brigitte ist verletzt, ihr müsst nur wissen, dass wir später kommen.“

„Was ist genau passiert?“, wollte ich gerade fragen, da hatte sie schon aufgelegt. Mir war ganz schwindelig, als ich den Hörer auflegte. Der Besetztton der Verbindung war noch in meinem Ohr, als ich zurück zum Mittagstisch ging. Ich erzählte kurz, was ich wusste. Im Grund wusste ich ja gar nichts. Nur dass die Eltern später kommen würden und es einen Unfall gegeben hätte. Mir machte das Sorgen, große Sorgen. Ich war total unruhig, weil die Stimme meiner Mutter so ganz anders war, als müsse sie sich mühsam beherrschen, um nicht loszuweinen. Was konnte ich tun? Ich musste mich irgendwie von meinen dunklen Gedanken ablenken. Mit Musik kann ich das immer am besten. Deshalb setzte ich mich ans Spinett, dieses kleine Cembalo, das ich erst kürzlich bekommen hatte. Ich habe einfach gespielt, wohl ein Präludium von Bach. Das half, vorübergehend etwas ruhiger zu werden. Später lief ich herum, mal draußen im Garten, mal in der Wohnung.

Warum rief Mutti nicht noch mal an? Was war mit Brigitte?
Zufällig stand ich dann im Wohnzimmer am Fenster und sah unseren Pfarrer kommen. Wellmer. Wie immer schwarz gekleidet, ging er hoch aufgerichtet, sah mich aber nicht, sondern lief konzentriert auf den Eingang zu. Ich fragte mich: ‚Was will der denn hier?‘ Er wirkte furchtbar feierlich und sagte: „Hol‘ deine Geschwister zusammen, ich habe euch etwas sehr Trauriges mitzuteilen.“ Da ging ein Zittern durch meinen ganzen Körper, im Kopf begann es laut zu pochen. Ich sagte dann trotzdem allen Bescheid und wir setzten uns um den großen Esstisch. Ich saß neben Pfarrer Wellmer. Der saß da, wo sonst unser Vater seinen Platz hatte, und so rundum platzierte sich jeder am Tisch. Er sagte noch einmal: „Ich habe euch etwas sehr Trauriges mitzuteilen. Eure Schwester Brigitte ist bei einem Unfall gestorben.“ Da fing ich an zu zittern und konnte mich kaum auf dem Stuhl halten, dachte, ich falle gleich runter. ‚Wie kann ich weiterleben, wenn Brigitte tot ist?‘ Der Pfarrer sagte: „Du musst jetzt ganz stark sein und versuchen, damit fertig zu werden.“ Wie konnte ich jetzt stark sein und mit dieser Nachricht fertigwerden? Vom Telefongespräch wusste ich schon, dass etwas nicht stimmte, aber natürlich nichts Genaues. Ob Mutti da schon wusste, dass Brigitte tot war? Hatte sie deshalb so schnell aufgelegt? Der Pfarrer betete noch mit uns und ging wieder. Ich konnte mich kaum bewegen, wusste nicht, wie mit mir umgehen. Irgendwie bin ich dann aufgestanden und habe das Schreckliche auch Bertha gesagt, die in der Küche wartete. Und danach wusste ich nicht mehr weiter, habe mich in meinem Zimmer aufs Bett geschmissen und endlos geheult. Irgendwann rief ich Brigittes Freund Conni an. Er war völlig geschockt. Später haben wir dann auf die Eltern gewartet. Sehr, sehr lange.