»Mir kann doch nichts geschehen.«

Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury

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"Mir kann doch nichts geschehen."
Das Leben der Nesthäkchenautorin
Else Ury.

edition ebersbach

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Leseprobe


Vorwort

»Zeitzeichen. Stichtag heute: 12. 1. 1943. Todestag der Jugendbuch-Schriftstellerin Else Ury. Ich sitze im Auto auf dem Weg zur Arbeit und höre WDR2. Der Name Ury ist mir vertraut wie der Geschmack von Grießbrei aus meiner Kindheit. Nesthäkchen. Ich höre die Stimmen aus dem Radio, ich sehe die stolze Serie von neun Bänden in meinem Bücherschrank vor mir. Eine Altmännerstimme sagt: »Mir wurde in Amsterdam ein letzter Brief meines Vaters übergeben und da wurde berichtet, dass meine Tante am 6. Januar 1943 von der Gestapo verhaftet worden war. Wir wussten aber aus Dokumenten später, dass sie am 12. Januar nach Auschwitz deportiert wurde, also sie war anscheinend sechs Tage im Sammellager in Nord-Berlin, bevor sie in die Viehwagen nach Auschwitz kam.« Ich fahre den Wagen an den Straßenrand. Kein Wort will ich verpassen. Das Gehörte ist mir neu, erschüttert und verwirrt mich. Der Name Else Ury war fest in meinem Gedächtnis haften geblieben, über dreißig Jahre lang, unbelastet und geschichtslos. Else Ury - eine Jüdin? Else Ury - Opfer des Völkermordes in Auschwitz? Dass die Vergangenheit uns immer wieder einholt, wusste ich bereits, aber so konkret hatte ich es selten erfahren.«
Mit diesem Bericht leitete ich 1992 meine Else-Ury-Biografie Nesthäkchen kommt ins KZ  Eine Annäherung an Else Ury ein. Für mich war die ZEITZEICHEN-Sendung im Januar 1988 der Beginn einer intensiven Beschäftigung mit Else Ury. Zuerst nahm ich Kontakt zu Klaus Heymann, dem Alleinerben und Neffen Else Urys auf. Daraus wurde eine Freundschaft, die bis heute andauert. Klaus Heymann gab mir bereitwillig viele nützliche Hinweise, schenkte mir Familienbilder, überließ mir Briefe und Zeugnisse aus dem Leben Else Urys.
Das Echo auf das Erscheinen meines Buches 1992 war überwältigend. Offensichtlich waren Else Urys Bücher, insbesondere die Nesthäkchen-Serie, für die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen der Frauen ein Teil ihrer Identität und die Erschütterung über Else Urys Tod in Auschwitz groß.  Seitdem wurde weiter über Else Urys Leben und Werk geforscht, Ausstellungen wurden entwickelt, neue Erkenntnisse gewonnen. In Berlin trägt eine Kinder- und Jugendbibliothek ihren Namen, am Savignyplatz gibt es inzwischen einen Else-Ury-Bogen und an ihrem Ferienhaus in Karpacz, vormals Krummhübel, ist eine Plakette zum Gedenken an Else Ury in deutscher und polnischer Sprache angebracht, an der Wand von Haus Nesthäkchen prangt die Inschrift: Dom Nesthäkchen. Eine Ausstellung in deutscher und polnischer Sprache erzählt vom Leben und Werk Else Urys. Tangermünde, die Herkunft der Familie Ury, restaurierte den jüdischen Friedhof, und auf einem der wenigen gut erhaltenen Grabsteine kann man den Namen einer ›Treudel geb. Ury‹ lesen. Else Ury hat Spuren hinterlassen, die weit über die Bekanntheit der Nesthäkchenbände hinausgehen.
Doch die berühmte Autorin hat kein Grab in Berlin. Nur ein Memoriam auf dem Grabstein ihrer Eltern erinnert auf dem jüdischen Friedhof Weißensee an ihr Schicksal.
‹Else Ury geb. in Berlin 1. Nov. 1877
deportiert von Berlin 12. Jan. 1943
und nicht zurückgekehrt.›

Das genaue Todesdatum Else Urys war lange Zeit unklar. Die Gedenkstätte Auschwitz hatte 1988 auf Anfrage lediglich geantwortet, dass es keine Häftlingsnummer unter dem Namen Ury gäbe und man deshalb davon ausgehe, dass Else Ury entweder auf dem Transport gestorben oder direkt von der Rampe aus in die Gaskammer getrieben worden sei.
Erst die tief greifenden Veränderungen im Osten Europas in den neunziger Jahren machten neue Forschungsarbeiten in Auschwitz möglich. So erhielt eine Gruppe Berliner Schüler für ihr Projekt ‹Gedenkstättenarbeit› die Liste des Reichssicherheitshauptamtes vom 12. Januar 1943. Auf dieser Transportliste steht auch Else Sara Ury als eine von 1100 Berliner Juden. Der Zug kam am 13. Januar in Auschwitz an. Auch die Koffer der Deportierten sind aufbewahrt. Ein Koffer trägt die Aufschrift: ‹Else Sara Ury. Berlin, Solinger-Str 10›. Else Ury, 65 Jahre alt,  wurde als ‹nicht arbeitsfähig› eingestuft und noch am gleichen Tag in einer Gaskammer ermordet. Die Schülerinnen und Schüler des ‹Projekts Gedenkstättenarbeit› haben das große Verdienst, diese Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. 
Else Ury, von den Kindern liebevoll ›die Ury‹ genannt, wuchs dicht beim Alexanderplatz auf. Bis 1905 lebte die Familie in Berlin Mitte, in der Heiligegeist und später der Poststraße. Über drei Generationen hinweg entwickelte sich der für jüdische Familien typische Aufstieg, der beruflich vom Händler zum Akademiker, örtlich von der Stadtmitte Berlins zum neuen Westen führte. Die Brüder Ludwig und Hans besuchten Gymnasien und wurden Rechtsanwalt bzw. Arzt, die Töchter gingen auf das angesehene Mädchenlyzeum in der Ziegelstraße, die Luisenschule.
Circa 1905 zog die Familie in die neue Mitte, zur Kantstraße 30. Eine Plakette der preußischen Porzellanmanufaktur - angebracht vom Bezirksamt Charlottenburg - erinnert seit 1994 an den langjährigen Wohnort der Schriftstellerin. Dort lebte sie bis 1932, später am Kaiserdamm. Die Wohnung in der Kantstraße 30, im zweiten Stock, dicht beim Savignyplatz, wurde ihr Schreibort, ihr Zuhause. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ist diese Welt ein für alle mal untergegangen. Else Ury wurde zur verfemten Jüdin. Aus rassischem Wahn wurde sie ermordet. In ihrer literarischer Hinterlassenschaft, 39 Mädchen- und Märchenbücher und zahlreichen kleineren Veröffentlichungen, fehlen die Hinweise auf die jüdische Tradition, auf die spezifischen Feiertage und Rituale. In ihrem realen Leben waren sie jedoch äußerst präsent. Das lässt sich insbesondere an einem Märchen ablesen, das erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt wurde. Im Trödelkeller heißt die Geschichte und geht zurück auf einen Wettbewerb, den die Großloge B`nei B`rith 1908 ausrichtete. Interessant ist auch die Geschichte Die erste Lüge, die vom Laubhüttenfest handelt. In ihren bekannten Backfischromanen beschreibt Else Ury ein eher überkonfessionell religiöses Leben. Nur Weihnachten, das deutscheste aller christlichen Feste, spielt eine herausragende Rolle. In keinem Kinderbuch strahlt der Weihnachtsbaum so hell, schneit es so wunderbar Silberschnee am Heiligabend, ist die Familie so harmonisch beieinander wie bei Else Ury.
Von diesen frühen Leseerfahrungen verführt, haben die meisten Leserinnen auch als erwachsene Frauen nicht wahrnehmen wollen, dass Else Ury Jüdin war. Ihr Schicksal - der Tod in Auschwitz - wurde noch Jahrzehnte nach dem Kriegsende von der Öffentlichkeit ignoriert oder verschwiegen, obwohl ihre Bücher längst millionenfach verkauft und ihre Nesthäkchen-Figur Heldin einer viel gesehenen Fernsehserie wurden.
Positiv gelesen ermöglicht die nicht konfessionell festgelegte Gottgläubigkeit in Else Urys Bücher den Kindern aller damals im deutschen Kulturraum vorhandenen Religionen die Identifikation mit den beschrieben Figuren. Wir können es ganz im Sinne Else Urys als ein Element der religiösen Toleranz verstehen, die sie, geprägt von den Gedanken von Lessings ‹Nathan der Weise›, ihren kleinen Lesern und Leserinnen vermitteln wollte. Es ist nicht wichtig ›ob Christ ob Jude‹, es kommt darauf an, Mensch zu sein. So betrachtet, fügt sich die Ury in die bedeutende Tradition  assimilierter jüdischer Autoren, die der Toleranz und Säkularität in unserem Land den Weg bereitet haben.
Aus heutiger Sicht ist die Beziehung Else Urys zum Judentum eng verwoben mit der Geschichte der Vernichtung des Judentums in Deutschland. Die Frauen der Nachkriegsgenerationen können Else Urys Bücher nicht mehr ohne die Kenntnis ihres Todes wahrnehmen. Doch spiegelt die Rezeption der Ury-Bücher nach 1945 die bornierte Blindheit der Nachkriegsgesellschaft gegenüber der jüngsten deutschen Geschichte und insbesondere der Shoah. 
Die Verlage und Fernsehanstalten ebenso wie die meisten Frauen, die im Krieg als Kinder die Nesthäkchen-Bücher lasen, wussten oder hatten zumindest eine Ahnung von Else Urys Schicksal. Dass es noch einmal eine ganze Generation brauchte, um diese Kenntnis zur öffentlichen Sache zu machen, zeigt, wie schwer sich auch die Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg taten, sich der Geschichte ihres Volkes zu stellen und sie an ihre Kinder und Enkel weiterzugeben.
Die ersten neuen Nesthäkchen-Bände erschienen 1948. Der Testamentsvollstrecker Kurt Landsberger fand in Düsseldorf die geeigneten Partner für die Neuauflage der berühmten Serie. Das Ehepaar Hoch führte dort einen kleinen Verlag und traute sich den Neuanfang zu. Die Texte wurden im Stil der Zeit überarbeitet und gekürzt. Oft nicht zu ihrem Vorteil. Teilweise machten die neuen Bände nur noch 70 Prozent des Originaltextes aus. Dies bedeutete insgesamt eine Störung des Aufbaus, eine entscheidende Änderung der Erzählrhythmen, der Intentionen und Charakterisierungen hin zu mehr klischeehafter Darstellung. Der Hoch Verlag konnte gleichwohl enorme Verkaufserfolge verbuchen. Mehr als 3 Millionen Exemplare wurden ab den Fünfziger Jahren von der nunmehr neunbändigen Serie abgesetzt, noch mal eine halbe Million mit Sammelausgaben anderer Verlage. Mitte der achtziger Jahre ging die Serie an den Thienemann Verlag, der keine wirkliche Überarbeitung einleitete und sich auch weiterhin über das Schicksal der Autorin ausschwieg. Nach der Wende 1989/90, als die Bände erstmals in der ehemaligen DDR zu haben waren, erlebte die Nesthäkchen-Serie erneut einen Verkaufsboom. Der Verlag konnte damals kaum die Nachfrage bedienen und in den ostdeutschen Bibliotheken waren die Bücher immer ausgeliehen. Neuerlich ist eine dem Originaltext stärker angelehnte Taschenbuchausgabe erschienen. Hier wird im Klappentext endlich auch Else Urys Schicksal erwähnt.
 Else Urys Bücher waren in beiden deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts - mit unterschiedlichen Begründungen - verboten. Im Nationalsozialismus vor allem aus rassischen Gründen, in der DDR wegen der ‹bürgerlichen Dekadenz› der beschriebenen Verhältnisse. Wer genau hinsieht erkennt, dass sich die Mädchen- und Frauengestalten der Ury nicht in die üblichen Schubladen pressen lassen. Den nationalsozialistischen Zensoren war Nesthäkchen zu aufmüpfig, zu wenig unterwürfig und obendrein noch studiert. Das passte nicht in das geforderte Bild von der führergläubigen Mutter zukünftiger Soldaten und selbstverständlich auch nicht in die Vorstellungen der Kulturfunktionäre der DDR. In Romanen, die heute lange vergessen sind, beschreibt Else Ury den harten Kampf der ersten Ärztin mit eigener Praxis und auch den Versuch, eine partnerschaftliche Ehe zu führen, in dem Mann und Frau ihrem Beruf nachgehen.
Else Ury – die geistige Mutter einer ‹heilen Welt›? Dieses Klischee hat ausgedient. Die Neugier und Zuneigung für die Verfasserin der Nesthäkchenbücher sind bis heute ungebrochen. Else Ury ist, das macht das nicht nachlassende Interesse an ihr deutlich, den einfachen Formeln und Zuordnungen längst entwachsen. 

Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Neubearbeitung vorzulegen, die dieser Sicht Rechnung trägt. Auch bei mir hat sich in den letzten Jahren das Bild von Else Ury verändert. Selbstverständlich beruht die erneute Lebensbeschreibung auf meiner ersten Annäherung an Else Ury: Nesthäkchen kommt ins KZ und die Leser und Leserinnen des ersten Buches werden manche bekannte Passagen wieder finden. Vor allem aber werden sie die jüdische Spuren in Else Urys Leben deutlicher wahrnehmen. Es geht mir um die enge Verwurzelung Else Urys im Judentum und die Erkenntnis, dass sie nicht nur eine assimilierte und der deutschen Kultur eng verbundene Frau war, sondern dass sie mit ihren Büchern selbst einen bedeutenden Beitrag zur Assimilation geleistet hat. Wie viele andere jüdische Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihrer Zeit sah Else Ury in der Toleranz und Menschlichkeit die verbindenden Werte der deutschen Kultur jenseits aller konfessionellen Schranken. Dieser Tradition fühlte sie sich verbunden und wollte sie für Kinder aller Altersgruppen veranschaulichen. Ein selbstverständlicher Teil ihres Lebensgefühls war der Patriotismus, den sie entsprechend dem Zeitgeist darstellte. Dieses Denken machte sie anfangs blind für die Brutalität und den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten und ließ sie das Buch: Jugend voraus schreiben, in dem  Hitler als ›politischer Vorfrühling‹  dargestellt wird.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist jede Art vaterländischer Begeisterung in Deutschland obsolet geworden und insbesondere die 68er Generation, der ich angehöre, hat diesem Denken eine entschiedene Absage erteilt. So wird sich mancher fragen, warum ausgerechnet ich, die aktiv an der Studentenbewegung beteiligt war, mich so intensiv mit Else Ury, einer konservativen, unpolitischen Frau des Bürgertums, befasse.
Bei den Biografien über Frauen, die ich inzwischen geschrieben habe, interessierten mich vor allem die Brüche und Verwerfungen im Leben der Protagonistinnen. Bei Else Ury ist es die Faszination des Widerspruchs zwischen der Nesthäkchenwelt und dem dahinter lauernden realen Leben der Else Ury, die Begeisterung über die Vielseitigkeit von Else Urys Frauenfiguren, die teils angepasste Mütter und Ehefrauen, teils von der frühen Frauenemanzipation geprägte mutige Pionierinnen der weiblichen Ausbildung und Berufstätigkeit sind, und nicht zuletzt die Erschütterung über die Unmöglichkeit, das schriftstellerische Werk von Else Ury mit dem Tod in Auschwitz zusammenzubringen,
Dies zusammen mit den vielen neuen Forschungsergebnissen und dem lebendigen Interesse der Öffentlichkeit, das ich in zahllosen Lesungen in den vergangenen 15 Jahren erfahren konnte, haben mich zu einer ›zweiten Annäherung‹ an Else Ury bewogen.
  

 

Prolog
Ein kleiner schwarzer Koffer.
Ein Ausstellungsstück, beschriftet mit weißer Farbe: ›Else Sara Ury
Berlin Solingerstr. 10‹. Zu sehen in der Gedenkstätte der Wannseekonferenz zum Völkermord an den europäischen Juden. Die Nachgeborenen betrachten ihn respektvoll.
Von Zuhaus nach irgendwo wird der Koffer reisen. Weisungsgemäß mit Name und Adresse versehen, fertig gepackt. Alles muss bereit sein. Vor allem der Koffer. Die Anweisung vom Reichssicherheitshauptamt ist zugestellt. Die Liste mit den Kleidungsstücken: Hemden, Socken, Unterhosen. Anzahl und Art sind genau festgelegt. Sie wird den Koffer nehmen, in den Abendstunden, wenn der Lastwagen sie abholt, um sie in die Deportationssammelstelle zu bringen. Von dort wird es zum Bahnhof  Putlitzstraße in Moabit gehen, in den frühen Morgenstunden, in Kälte und Dunkelheit. Der Koffer wird mit 1100 anderen im Kofferwaggon landen, dann in einem Lagerraum von Auschwitz, ausgeleert, der Inhalt entwendet. Man wird ihr alles nehmen. Erst den Koffer, dann das Leben.
Sie seufzt und packt. Im Osten soll es kalt sein, sehr kalt. Warum stehen weder Wintermantel, Schal noch Handschuhe auf der Liste? Gehören sie  nicht zu den erlaubten Dingen, die sie brauchen wird? Von Zuhaus nach irgendwo wird sie gehen. Zuerst von Moabit nach Berlin-Mitte.
Es klingelt. Ein Lastwagen mit laufendem Motor steht vor der Tür. Sie nimmt den Koffer und geht los. Aus der Solinger Straße 10, dem Judenhaus, in dem sie seit 1939 wohnt. Im Lastwagen stehend, sich aneinander fest haltend, zur Deportationssammelstelle, einst Altenheim der Jüdischen Gemeinde. Vorbei an der geschändeten großen Synagoge. Große Hamburger Straße 26 heißt die Adresse. Und dort? Wird sie lange warten müssen auf den Weitertransport in Richtung Osten? Vielerlei Gerüchte hat sie gehört. Nicht darüber nachdenken.
Zurückdenken. Der erste Gang in die Synagoge. Gelöste, feierliche Stimmung in der Heidereuter Gasse damals. Mit der Mutter ging sie durch den Torbogen, tauchte in die Dunkelheit des Vorraumes ein, stieg zur Frauenempore hinauf. Eine Welt voller fremdartiger Gerüche und wunderbares Licht umgaben sie. Einsamkeit und Todesangst umgeben sie jetzt. Da sind keine schützenden Hände mehr. Da sind Greifhände, denen alles erlaubt ist, die alte Jüdin, blutig schlagen, töten. Nur nicht daran denken. Weit zurückdenken. Synagoge. Vater. Mutter. Licht. Duft. Sprechender Singsang. Frauen, die sie herzen und streichelen, ihr Süßigkeiten zustecken, bereitwillig Platz machen, um sie an die Balustrade zu lassen. Den Vater will sie sehen unter den betenden Männern und Knaben, die weiße Mäntel und silberschimmernde Tücher umgelegt haben. Und dann ist da der rhythmische Wechselgesang, der alte, bärtige Mann, der mit dem riesigen Thora-Zeiger über eine große Rolle fährt.
Schön war es damals.
Heute ist die Welt dunkel und kalt. Nichts ist ihr mehr erlaubt, was einst ihr Leben lebenswert machte. Parkbänke - für Juden verboten! Wälder - für Juden verboten! Die öffentlichen Verkehrsmittel - für Juden verboten!
Seit Tagen dreht sich alles nur um Listen. Sie hat sie ausgefüllt und unterschrieben: ›Else Sara Ury‹.
Letzte Nacht hat es geschneit. Das erweckt keine Freude mehr. Weiß wie Schnee - das war in den Märchen, als sie ein Kind war, im Grunewald, im Riesengebirge. Krummhübel - Welten entfernt. Zurückdenken. Die Veranda im Haus Nesthäkchen, blühender Weißdorn, im Liegestuhl schreiben, frei atmen, die herrlich frische Luft nach den kurzen Gewittern. Weiter zurück: Ostseestrand, die kleinen frechen Jungen, die davonlaufen, braun oder blond - Kindersorgen. Ihre Tränen und die Arme des Fräuleins, sie schützend und liebkosend. Die Erinnerung füllt sie für eine kurze Zeit aus. Dann fällt die nahe Zukunft sie wieder an.
Sie wird die Treppe hinunter gehen, die Handtasche mit den Papieren fest an sich gepresst. Links, dort wo der Stern aufgenäht ist, mit winzig kleinen, ordentlichen Stichen. Der Herzschlag geht mal rasend, mal schleppend gegen das aufgenähte Zeichen. Große Hamburger Straße 26. Ein Davidstern ist auf die Tür geschmiert. Jüdische Ordner mit weißen Armbinden helfen den Ankommenden aus dem Lastwagen. Von Zuhaus nach irgendwo wird es weiter gehen. Else Ury, geboren am 1. November 1877. Es ist der 6. Januar 1943.