Leseprobe
Die Freundinnen schlenderten durch die Innenstadt. Auf dem Platz vor der großen Kirche waren zahllose politische Gruppen aktiv, riefen Parolen, hatten Tapeziertische aufgebaut und mit Plakaten beklebt. Hannah führte Lena zu ihren Genossen. Vorwurfsvoll wandte einer der Flugblattverteiler sich gleich an Hannah.
Guck mal da drüben, die Revis, die haben ausgerechnet dort ihren Stand. Musste unserer direkt gegenüber sein?
Sie winkte ab, könne das nicht bestimmen. Das entscheide allein das Ordnungsamt. Sie musste nur ordnungsgemäß die Anmeldung ausfüllen. Lena sah sich die Zeitungen und Aufsteller an, hörte den Parolenrufern zu. Beide Gruppen protestierten gegen Berufsverbote für Lehrer. Hannahs Truppe warb für Solidarität mit einer Ingrid, gegenüber die Revis, wie sie genannt wurden, setzten sich für einen Ernst ein, der wegen seiner politischen Aktivität in Bottrop nicht mehr Lehrer sein durfte. Hannah zog ihre Freundin weiter, drängte, ihr das Innere der alten Kirche zu zeigen. Doch Lena wollte erst einmal begreifen, was sich auf dem Platz vor ihr abspielte.
Ihr seid doch alle vom gleichen Berufsverbot betroffen, könnt ihr da nicht zusammen arbeiten?
Nein, mit denen nicht. Das sind die Wasserträger der DDR, für die kannst du doch auch nichts übrig haben.
Klar, die DDR ist nicht mein Land, darum bin ich ja weg. Aber hier ist die Lage doch ganz anders, auch wenn sie die DDR unterstützen.
Du meinst wohl, von ihr bezahlt werden.
Okay, von ihr bezahlt. Aber das hat doch mit dem Kampf gegen Berufsverbote nichts zu tun.
Doch, wenn wir den Unterschied nicht deutlich machen, werden wir mit denen ständig in einen Topf geworfen. Die Leute verwechseln uns sowieso noch immer und giften uns an: Geht doch rüber. In solchen Fragen muss Klarheit herrschen. Wir wollen keine neue DDR. Sonst können wir ja gleich einpacken.
Hannahs Stimme war schrill und laut geworden, als sagte sie das alles nicht nur ihrer Freundin, sondern einer unbestimmten Menge, die es zu überzeugen gälte.
Erst als sie in das Halbdunkel der großen Kirche traten, wurde sie ruhig und irgendwie andächtig, als habe sie in ihrem Inneren einen Schalter umgelegt. Sie zeigte Lena den hölzernen Ritter Reinoldus und die Kirchenfenster, durch die Sonnenstrahlen auf den schlichten Altar fielen. Sie setzten sich in die Bänke, genossen die Stille des Raums. Nichts schien Hannah nach draußen zu drängen. Irgendwann standen sie auf und gingen hinaus.
Auf dem Vorplatz trafen sie auf eine riesige Menschentraube, in der Mitte schimpfende und prügelnde Leute. Polizisten drängten zum Kern der Auseinandersetzung. Auch Hannah stürmte voran. Der Tisch ihrer Genossen war umgeworfen, Zeitungen und Zettel flogen umher. Die Ständer lagen umgekippt auf der Erde.
Aufhören! rief einer der Polizisten. Aufhören!
Uniformierte zogen die Prügelnden unsanft auseinander. Die Schaulustigen fragten sich, was das alles zu bedeuten habe, warum die Linken sich nun schon öffentlich prügelten.
Na, das sind ja Streithähne! Das sollen sie mal ohne uns austragen. Die spinnen doch, hieß es von den Umstehenden.
Hannah schob ihren Bauch weit vor, mit roten Flecken im Gesicht und wild zerzausten Haaren stand sie vor einem Polizisten.
Ich habe den Stand angemeldet, hier mein Ausweis, die Unterlagen hat der junge Mann mit der Kappe da drüben.
Und was soll die Prügelei hier? fragte der Polizist.
Ich weiß es nicht, sagte Hannah. Ich war gerade mit meinem Gast in der Reinoldikirche. Sie sehen ja, ich bin hochschwanger. Da lass ich mich doch nicht auf Handgreiflichkeiten ein.
Der Polizist nickte, notierte Hannahs Daten, wandte sich wieder an die Streitenden, die sich, von Polizisten abgeschirmt, gegenseitig weiter aufs heftigste beschimpften.
Revischwein! rief einer von Hannahs Leuten.
Der Beschimpfte konterte: Euch sollte man die Fresse polieren.
Die Polizisten forderten zum Weitergehen auf. Allmählich löste sich der Ring von Schaulustigen. Hannah sagte: Macht Schluss für heute, das bringt nichts mehr.
Die jungen Leute packten die Sachen zusammen, erzählten, dass plötzlich einer von drüben gekommen wäre, ihnen das Megaphon wegzureißen. Sie hatten über Ingrids Berufsverbot aufgeklärt. Haltet endlich die Klappe! Ihr nervt! hatten sie gebrüllt und schon war die Keilerei in Gang gewesen.
Lass uns gehen, in der Sonne auf dem Alten Markt einen Kaffee trinken, sagte Hannah.
Lena war von dem Auftritt der Streitenden unangenehm berührt, sagte das Hannah auch, spürte, wie peinlich ihr der Vorfall war, doch Lena ließ nicht locker, wollte wissen, warum die von der DKP so besonders verachtete Gegner seien. Hannahs Stimme bekam wieder den Agitationston, der Lena unerträglich war, erklärte, dass international die sozialistische Bewegung gespalten sei, die Chinesen gegen die Sowjets. Da sei das Schauspiel hier nur ein harmloser Stellvertreterkrieg mit Fäusten. Ob sie nicht auch fremdfinanziert seien, von den Chinesen, vermutete Lena. Das bestritt Hannah vehement. Und warum sind die Revis und die Sowjetunion so besonders gefährlich, wollte Lena wissen. Eine ganze Theorie chinesischer Außenpolitik, die ›Dreiweltentheorie‹, wurde ihr als Antwort aufgetischt. Hannah war wieder einmal nicht zu stoppen, bis Lena bat, einfach nur noch in Ruhe ihren Kaffee trinken und in die Sonne blinzeln zu dürfen. Wie zur Entschuldigung strich Hannah ihr über die Hand, lächelte, sagte, dass es ihr auch reiche und sie viel lieber über ganz andere Dinge reden wolle.
Über was willst du reden? fragte Lena erschöpft.
Über dich, deine Pläne für die Zukunft, die Malerei und die Liebe.
Bei einem Spaziergang durch den Rombergpark, den Hannah ihrem Besuch als den hiesigen Jardin de Luxembourg vorstellte, machte Lena ihr heftige Vorwürfe, ihr Leben und ihre Talente zu vergeuden. Rundum zeigten die Blätter der Büsche und Bäume ein üppiges Farbenspiel von leuchtend gelb bis tiefrot. Im Park war Hannah kindlich begeistert von der Farbenpracht, zu Hause bei ihr gab es keine einzige Pflanze. Lena erkundigte sich warum.
Das macht mir zu viel Arbeit. Dafür habe ich keine Zeit. Bisher sind alle Pflänzchen bei uns einen grässlichen Tod gestorben, verdurstet.
Sie kamen zu einem Teich mit Goldfischen, setzten sich eine Weile auf den Rand, tauchten die Finger ins kühle Wasser, verscheuchten die Fische, die eilig das Weite suchten. Lena fragte, ob Hannah das französische Wort für Wartesaal kennen würde, wartete keine Antwort ab.
La salle des pas perdus. Saal der verlorenen Schritte. Dar- an muss ich die ganze Zeit denken, denn darin steckst du. In einem Wartesaal. Es sind verlorene Schritte, die du für deine Organisation gehst, du weißt im Grunde nicht weiter, das spüre ich. Hör auf damit! Mach was Richtiges! Oder betreu einfach nur deine Kinder. Das Neue wird sicher noch mal viel von dir verlangen. Erhol dich von der Rödelei für die aussichtslose Politik deiner Truppe!
Hannah sagte nach einer Weile: Du weißt, ich will immer alles bis zur Neige. Zurzeit ist die Lage völlig unklar. Innerparteilich gibt es viel Ärger, heftige Kämpfe, interne Oppositionsgruppen raufen sich hinter dicht verschlossenen Türen. Das geht nicht mehr lange gut. Aber jetzt aufhören, einfach aufgeben? Das kann ich nicht. Ich will dir noch etwas erzählen über die Revis und wie eng wir trotz aller Feindschaft miteinander verhakt sind. Mein Erbe habe ich, du erinnerst dich vielleicht, damals gespendet.
Lena konnte sich dunkel erinnern, dass sie ihr davon erzählt hatte und sie damals sehr verwundert war, dass Hannah scheinbar leicht so viel Geld weggab.
Die Ironie der Geschichte will es, dass von diesem Geld eine Druckmaschine gekauft wurde und eben diese Druckmaschine kam bei der Auflösung der Organisation in die Hände von Genossen, die dann zu den Revis gingen.
Das ist nicht wahr?! Und, wie kannst du das ertragen?
So was muss man halt aushalten. Das Geld wäre heute so oder so alle und es ist vorbei. Aber schade ist es natürlich trotzdem. Viel lieber würde ich es heute meiner Organisation spenden.
Das muss ja nun auch nicht sein. Aber, würdest du überhaupt noch einmal alles weggeben, wenn du die Gelegenheit dazu hättest?
Ich weiß es nicht. Aber die Frage stellt sich nicht mehr. Mein Schwiegervater hat vorgesorgt und in seinem Testament ausdrücklich verfügt, dass das Erbe nicht an linksextreme Organisationen fallen darf. Ist das nicht genial?
Der weiß eben, was er an euch hat.
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