Leseprobe
Venedig. Stadt der Sinne, Stadt des Zerfalls. In Architektur gegossene, verfestigte Zeit. Umgeben von Meeresweite, zerschnitten von Kanälen, voller übersättigter Melancholie. Sonne, die die Dächer bleicht. Wasser, das an den Wänden leckt. Eine Stadt, die sich vorrangig auf sich selbst besinnt, zu schmal sind die Gassen, zu dicht die Häuser aneinander gedrängt. Wer tiefer atmen will, flüchtet hinaus aufs Meer. Zum Lido, zu den Inseln. Und kehrt doch bald zurück. Zum Geruch des brackigen Wassers. Zur Behaglichkeit gemütlicher Cafés. Hier bleibt niemand mit sich allein. Erzwungene Nähe, gepaart mit selbstverständlicher Weltoffenheit. Venedig, Stadt der Extreme, tolerant und engherzig zugleich.
Hier, an einem Frühlingstag des Jahres 1880, dem 8. April, wurde Margherita Grassini geboren. Sie war die Jüngste von vier Kindern. Schöner, klüger und widerstandsfähiger als ihre Geschwister. Eine Kindheit ohne Sorgen erwartete sie, ohne Mangel, beinahe ohne Schmerz. Nichts, woran es fehlen mochte. Personal, Kleider, Bücher. Sogar ein Garten, gleich neben dem Palast der Familie, Margheritas Paradies, wo sie die Figuren ihrer Märchenbücher lebendig werden ließ:
»Ich glaubte an den Zauber meines Lagunen-Gartens. Ich sah ihn nie wieder, und ich fühle auf den Handballen noch die milde Wärme. Ich atme den salzigen und apfelartigen Atem von Pflanzen und Wasser. Im Schatten des Kirschbaums, in den langen Stunden jener endlosen Tage sah ich [...] die spitze Nase Pinocchios, der zwischen den gläsernen Kirschen erscheint, die Liguster sich um Bagheera verdichten, der Mowgli belehrt, [...] und mir schien es natürlich, dass auf mein unerfahrenes Hacken hin, mein Puppengarten, dort, in der Ecke des Gartens, mir einige ausgegrabene Goldstücke mit dem geflügelten Löwen der heiteren Republik Venedig schenken würde. Rundes Münzengold, rundes Margheritengold und Ranunkeln, alles gleich märchenhaft und einfach unter der runden Goldsonne.«
Garten, Haus und Stadt beflügelten Margheritas Phantasie. Da war der alte, dunkle Palast mit Teppichen und Ölgemälden, wo in verborgenen Ecken und Winkeln im matten Schimmer des Kerzenlichts Hexen, wilde Tiere und Drachen lauerten. Vor allem hinter den schweren Vorhängen, dort im großen Saal, den sie durchqueren musste, um zu Tisch oder zu Bett zu gehen. Vergeblich spotteten Nella und Lina, neun und sechs Jahre älter als Margherita, über die kleine Schwester. Wie sollte sie dem Tiger, dem Löwen entkommen? Auf Zehenspitzen langsam vorbeischleichen oder so schnell wie möglich durch den Saal rennen? Beides schien möglich, beides wurde von ihr verworfen. Es half nur eines: »dem Risiko ins Auge zu blicken, [...] die Gardinen tollkühn anzuheben. Was für Herzklopfen!«
Auch in der Stadt fürchtete sie sich, in den feuchten Gassen, auf den alten, ächzenden Holzbrücken, im Winter, wenn das schwarze Wasser gurgelte und sie zu verschlingen drohte. Wer wollte ihr garantieren, dass kein Seeräuber, kein Seeungeheuer sich dort unten verbarg? Diese Enge, dieses Gefühl von Eingezwängtsein und Bedrohung – im Garten ihrer Eltern fühlte Margherita sich davon befreit. Hier wuchsen Palmen, Rosmarin, Oliven. Hier blühten Rosen, sprudelte ein Brunnen, wärmte die Sonne. Aber noch schöner, noch sonniger und luftiger waren die Sommer in Conegliano, etwa 50 Kilometer nördlich von Venedig, bei Dolcetta Levi, Margheritas Großmutter.
Conegliano, Geburtsort des Prosecco, liegt inmitten einer sanften Hügellandschaft. Weinberge, Wälder. Schauen, so weit das Auge reicht. Hier konnte Margherita, ein Bündel an Energie und Rastlosigkeit, laufen, so lange sie wollte, die Arme ausgestreckt, bereit, den Wind, der hier ungehindert über die Hügel strich, zu fangen oder mit ihm um die Wette zu rennen. Großmutter Dolcetta ließ sie gewähren. (...)
War ihr Glück ein unverdientes? Musste sie nicht beweisen, dass sie, das jüdische Mädchen, dessen würdig war? Sicherheitshalber, beschloss Margherita, würde sie sich eine Dankeshymne ausdenken, die sie im Anschluss an ihre abendlichen Gebete leise vor sich hin sprach: »Mach, o mein Gott, dass ich glücklich zu sein verstehe... mach, o Gott, dass ich dir dankbar zu sein verstehe für die schönen und guten Dinge, die du mir gegeben hast«
Alles zu haben – und dennoch nicht zufrieden zu sein. Undankbar? Verwöhnt? Unersättlich? Aber das war es nicht. Es war kein Wunsch nach mehr. Es war das vage Bedürfnis nach weniger. Ein Gefühl, dass sie vor allem dann beschlich, wenn sich durch die Gitterstäbe ihres Gartens dünne Ärmchen schoben und um Almosen bettelten. Kinder der Nachbarschaft, mit denen sie niemals spielen durfte. Wenige Meter vom Palast entfernt wohnten schon die Armen, der jüdische Bettel, der jeden Samstag, nach Ende des Sabbat, an das Tor des Palastes kam, um von ihrem Vater die Almosen in Empfang zu nehmen. Kein freiwilliger Akt individueller Großzügigkeit. Die ›Zedeka‹, die Wohltätigkeit, traditionell eine der bedeutendsten religiösen Pflichten, wird jedem frommen Juden von Gott auferlegt. Margheritas Vater kam dieser Pflicht rechtschaffen nach. Er erfüllte, was man von einem frommen Juden verlangte. Mehr nicht. Aber für Margherita, seine verzärtelte Lieblingstochter, bedeuteten diese Begegnungen weitaus mehr. »Werfen Sie mir eine Rose hinüber für den Altar der Madonna!«, baten die Kinder im Mai, wenn das runde Blumenbeet im Garten ein einziges, dichtes Rosa war.« In jenen schmutzigen, mageren Kinderhänden lag etwas, was sie, die reiche Kaufmannstochter, vielleicht als Einziges entbehrte und man ihr immer vorenthalten hatte. Es war die Leere darin, der Mangel. Etwas nicht zu besitzen. Nicht einmal Brot. Ein Zustand, den sie nicht kannte, faszinierend und beunruhigend zugleich.
Und der Vater, der reiche Geschäftsmann und angesehene Bürger, nahm diese Ungerechtigkeit einfach hin. Wollte sogar flüchten, raus aus dem Ghettogebiet, weg von den verarmten Glaubensbrüdern, in den Palazzo Bembo. Ein imposantes Gebäude, benannt nach einem dichtenden Kardinal des 15. Jahrhunderts. John Ruskin, der englische Kunsthistoriker und Margheritas großes Vorbild, berichtet, dass der Palazzo Bembo im Jahre 1849 in einem traurigen Zustand war. Das änderte sich jedoch schnell. Nach aufwändigen Renovierungen wurde er bald ein gern besuchter Treffpunkt für Gäste aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Kirche. Genau der richtige Ort für eine aufstrebende Persönlichkeit wie Amedeo Grassini. Hier, in der Nähe der Rialtobrücke, am Canal Grande, ließ es sich leben. Hart genug hatten er und seine Vorfahren dafür gearbeitet, damit das Familienerbe sich vermehrte.
Heute noch sind die Vertiefungen im Marmorboden, in denen einst zu Mitternacht die schweren Torschranken einrasteten, deutlich zu erkennen. Fossile Abdrücke einer untergegangenen Epoche im Stadtteil Cannareggio. Graue, verwohnte Häuser. Der Geruch nach abgestandenem Wasser. Hier sind die Wohnungen klein und niedrig, die Mieten billig, die Geranienkästen so schief, dass sie beim nächsten Sturm herabzufallen drohen. Männer mit hohen schwarzen Hüten eilen durch die Gassen. Wir schließen uns ihnen an, streben der Piazza zu. Hier sitzen hinter Schaufenstern die Hüter des Judentums, in religiöse Schriften vertieft, ungeachtet der wenigen, gaffenden Touristen. Unser Ziel ist das Museo della Communitá Ebraica. Ein schmales, hohes Gebäude, eine alte Holztür, daneben eine Nummer. Über eine Sprechanlage fragt man nach unseren Wünschen, öffnet uns. Vor uns liegt eine steile Treppe, die zu einem engen Raum führt, vollgestopft mit Computern und Bücherregalen. Wir fragen nach Margherita Sarfatti, nach Dokumenten, Nachlassunterlagen. Eine junge Frau bittet uns zu warten. Sie kommt mit einem alten Mann zurück. Sein Rücken ist gebeugt, seine Brillengläser getönt, kompottschalendick. Bei dem Namen Sarfatti erstarrt er, die unnatürlich großen Augen verengen sich, der magere Körper beginnt zu beben. »La ragazza di Mussolini! La ragazza!« Die Freundin von Mussolini! Was für eine Unverfrorenheit, nach ihr zu fragen. Ein Skandal, ausgerechnet hier, in einem jüdischen Museum. Vorsichtig entgegnen wir, dass der Vater Amedeo Grassini doch ein ehrbarer jüdischer Bürger gewesen sei. »No, no, no!« Nein, Dokumente gäbe es auf keinen Fall. »La ragazza die Mussolini!«
»Scusi«, sagen wir und sind schon weg, stolpern die Treppe hinunter, hinaus ins Freie. Wir, die Deutschen, die wagen, nach einer jüdischen Faschistin zu fragen, davongejagt von einem venezianischen Juden, vielleicht ein Überlebender des Holocaust. Schnell überqueren wir die Piazza, steuern auf eine zwischen Läden für Menoras und Gebetsmäntel eingezwängte Bar zu. Wir drücken uns an den äußersten Rand der Theke, bestellen caffè corretto, Espresso mit Schuss, leise, damit uns nur der Kellner hört.
Das Wort Ghetto, im Gedächtnis der Menschheit für immer verankert, hat seinen Ursprung im Venezianischen. Ghetto, der Guss, abgeleitet von der Eisengießerei, die damals in diesem Bezirk lag. Ein kleines, abgestecktes Areal, wo die Juden von 1516 an gezwungen wurden zu leben. Später musste man das Ghetto erweitern, unwillig nur gab man den jüdischen Eindringlingen vom kostbaren venezianischen Raum. Ihre bis zu neun Stockwerke hohen Häuser nannte man Wolkenkratzer. Zwei Mauern errichtete man um das Areal, von Christen bewacht, von Juden bezahlt. Wer sich nach Mitternacht außerhalb des Ghettos erwischen ließ, wurde mit Geldstrafen und Gefängnis bestraft. Erst unter den Hammerschlägen der napoleonischen Truppen zerbarsten die schweren Ghetto-Tore. (...)
Die Antwort fand sie an der Adria, im heißen, die Fußsohlen verbrennenden Sand, in den durchsichtigen, kühlenden Wellen, wenn sie mit ihrem Verehrer, einem Florenzer Professor, am Strand spazieren ging. Dieser Mann eröffnete ihr eine ganz andere Welt als die, die sie bisher kennen gelernt hatte. Er sprach von Marx und Engels, schenkte ihr statt Schokolade Das Kapital, gab ihr Tschernikow und Kropotkin zu lesen – alles geheim. Dass er sie ernst nahm, schmeichelte ihr. Dieser Verehrer war etwas anderes als Gugliemo Marconi, der Jugendfreund, den sie jedes Jahr in Bagni della Porretta traf, ein Kurort im Apennin, wo der Vater sein Asthma kurierte. Unvergesslich würden ihr die warmen Sommernächte sein, zusammen mit dem sechs Jahre älteren Gugliemo, der über Physik und Mathematik dozierte, ihr den Sternenhimmel erklärte, später an der Erfindung des Radio arbeiten (nach ihm wurde die Marconi-Antenne benannt) und 1909 den Nobelpreis für Physik bekommen würde. Eine lebenslange Freundschaft, unschuldig und so gar nicht zu vergleichen mit der drängenden Leidenschaft ihres sozialistischen Missionars, »Typ San Matteo, [...] mit dem Heiligenschein aus karotten- und silberfarbenen Bart und Haaren.« Für Gugliemo war sie ein Mädchen, der Professor hingegen betrachtete sie mit anderen Augen. So alt und vertrocknet, so melancholisch er auch war, seine Avancen und Zudringlichkeiten, die feurige Gier seiner Blicke – das alles war erschreckend und aufregend zugleich. Nicht, dass sie sich verliebte. Aber zum ersten Mal fühlte sie sich ernst genommen, als Frau, als ebenbürtige Partnerin, geachtet, umschmeichelt, begehrt. Vorsichtig aber bestimmt wehrte sie seine liebevollen Übergriffe ab.
(...)
Schnell setzte sie sich an ihren Schreibtisch, verfasste einen kleinen, glühenden Artikel, »heimlich abgefasst, heimlich und anonym an die sozialistische Zeitung Avanti! geschickt und dann mit Indianertricks in Zeitungskiosken gesucht, versteckt, weit von zu Hause entfernt. Auch dem Professor schickte sie den Artikel. Der reagierte prompt, belobigte sie mit einem Strauß roter Rosen, den sie vor ihren Eltern nicht geheim halten konnte. Der Vater tobte. Wenn sie diese subversiven Handlungen fortsetze, würde er große Probleme bekommen, Palast und Wohlstand verlieren. Als wenn sie das beeindrucken könnte! Das war doch gerade ihr Problem: dieser unverdiente Wohlstand, diese dekadente Üppigkeit, dieser himmelschreiende Unterschied im Gegensatz zu jener erbarmungswürdigen, jammernden Kreatur. Nur bei der Mutter fand sie eine Art geheime Zustimmung und verborgenen Respekt für ihr aufrührerisches Tun. Und bei einigen Venezianern. Die Neuigkeit, dass die Tochter eines Reichen in einer sozialistischen Zeitung schrieb, verbreitete sich erstaunlich schnell. Bald wurde sie spöttisch und anerkennend die ›rote Jungfrau‹ genannt.
Um den Vater nicht weiter aufzubringen, handelte sie von nun an sehr diskret, fing jeden Morgen die Post ab, versteckte die Briefe des Professors. Mochte er denken und verlangen, was er wollte, sie würde vom Sozialismus nicht mehr abrücken. Diese Sattheit und Selbstzufriedenheit, diese Anhäufung von Reichtum und Gütern blieben ihr suspekt. Eine eigene Gondel, sogar eine Familienloge im La Fenice besaßen die Grassinis. Nicht aus Begeisterung für die Musik, allein aus Prestige. Hier, im Opernhaus, erstickte sie fast im süßlichen Parfüm, neben den aufgebauschten Kleidern, während der tödlich langweiligen Gespräche in den mit Samt behangenen Logen, dem einzigen Ort, wo sich Frauen aufhalten durften. »Zu nah säße oder stünde sonst eine Frau bei einem wildfremden Mann« War das nicht lächerlich? Auch diese Art der Konversation, vom Gesellschaftsklatsch bis zu den Börsengerüchten, ab und zu unterbrochen, um einer schönen Arie zu lauschen oder einen Sänger mit ›Via! Via!‹ von der Bühne zu verscheuchen? Ihre einzige Hoffnung war hier die Gesellschaft interessanter, attraktiver Männer. Nicht die mit dem schwachen, weichen Flaum über den Lippen, die anderen, diejenigen, die schon erfahren, aber noch nicht verbraucht und aufgedunsen waren. Besonders einer hatte es ihr angetan: Cesare Sarfatti, Absolvent der Juristerei, mit kräftigen, schwarzen Haaren und einem imposanten Bart. Eine ungewöhnlich faszinierende Erscheinung, ohne dass sie genau wusste warum. Gut gebaut erschien er ihr, mit dunklen, glänzenden Augen, die häufig lachten. Seine Beredsamkeit, seine angenehm sonore Stimme unterhielten sie, trieben ihr das Blut in die Wangen. Margherita war damals 16, Cesare 30 Jahre alt. Ein Lächeln, ein Blick, ein Handkuss. Plaudern nach der Opernaufführung, gefallen auf den ersten Blick. Sie verabschiedeten sich mit dem Versprechen, einander wieder zu sehen.
Cesare Sarfatti, 1866 in Venedig geboren, stammte aus der Familie Zarfatti, Juden mit französischer Herkunft, die im frühen 14. Jahrhundert nach Italien gekommen waren. Die Familie wurde wohlhabend, brachte bedeutende Rabbiner hervor. Cesares Vater war Rechtsanwalt, vertrat eine englische Handelsfirma. Auch seine Mutter kam aus einer bekannten jüdischen Familie. Als Margherita ihn näher kennen lernte, stellte sie begeistert fest, dass auch ihre geistigen Interessen miteinander übereinstimmten. Cesare war der geborene Redner. Seine Auffassungen galten als modern. Die Welt aktiv verändern und verbessern, sie mit gestalten – ähnlich dachte auch sie. Anfangs hatte er die fortschrittliche Partei unterstützt, die in Opposition zur Regierung stand. Aber bald rückte er immer mehr nach links, sympathisierte mit den Republikanern, wurde schließlich Sozialist. Margherita beschwor ihn, daran festzuhalten. Niemals würde sie einen Mann heiraten, der sich nicht zum Sozialismus bekannte. Cesare beruhigte sie. Längst hatte er beschlossen, die 1898 von oben aufgelöste sozialistische Partei Venedigs wieder aufzubauen. Einer gemeinsamen Zukunft stand nichts im Weg. Cesare verkörperte eine Vaterfigur, die alles vereinte, wonach sich Margherita sehnte: familiäre Unabhängigkeit und die Garantie, ihre eigenen Interessen in Politik und Beruf zu verfolgen.
(...)
Die Liebenden mussten sich von nun an heimlich treffen, im Haus von Margheritas Schwester Lina. Eine kurze Zeitspanne, die es zu überbrücken galt, bis die Achtzehnjährige laut Gesetz auch ohne Zustimmung des Vaters heiraten durfte. Vater Grassini gab schließlich grollend nach, verlangte, dass sie wenigstens nach jüdischem Brauch heirateten und die Söhne beschnitten würden. Aber darauf hoffte er vergebens. Margherita wollte weder eine Trauung nach jüdischem Ritus noch konnte sie versprechen, die traditionellen Bräuche der Beschneidung einzuhalten. Mit Cesare wusste sie sich in diesem Punkt einig. In ihren Erinnerungen zieht sie Bilanz: »Mit 13 verliebte ich mich in die Malerei, mit 15 in eine Idee (den Sozialismus), mit 16 in einen Mann. Mit 18 heiratete ich zu gleicher Zeit die Literatur, die Künste, diese Idee und diesen Mann.«
Die Sarfattis lebten das aufregende und hoffnungsvolle Dasein junger Radikaler mit der Sicherheit, dass sie zu den Werten der alten Familien zurückkehren konnten, wann immer sie es wünschten. Ihre Freunde kamen aus Cesares Arbeitswelt, der sozialistischen Partei und den Künstlerkreisen. Gabriele D`Annunzio, der Jugendfreund Cesares, Provokateur bürgerlicher Moralauffassungen und erfolgreicher Dichter, traf Margherita zum ersten Mal um 1900. Er hatte die Sarfattis zu seiner Premiere von Das Schiff eingeladen und überreichte Margherita anschließend einen großen Strauß Rosen. Sein liebenswürdiges, angenehmes Wesen überraschte sie. Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft, enger und bindender noch als die zwischen Cesare und dem Dichter.
Mit der Geburt von Roberto im Mai 1900 begann bei den Sarfattis so etwas wie ein Familienleben. Roberto war ein hübsches Kind mit grau-grünen Augen und kupferfarbenen Haaren. Der schwarzhaarige Sohn Amedeo (Giovanni Giosue Percy) wurde zwei Jahre später geboren. Seine Namen stammten vom Vater und Margheritas Lieblingsdichtern, Pascoli, Carducci und Shelley.
Die Mutterschaft beeinträchtigte Sarfattis Aktivitäten nur wenig. Sie schrieb nach wie vor Kunstkritiken und setzte sich für die Entwicklung des Sozialismus und die Sache der Frauen ein. Ein Beobachter erinnerte sich, dass sie am Markusplatz auf dem Tisch eines Cafés stand und eine Ansprache hielt, während Roberto im Kinderwagen zu ihren Füßen schlief.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann für Italien die beste, hoffnungsvollste Zeit seit den Tagen des Risorgimento. Eine Periode ökonomischen Aufschwungs und politischer Neuerungen. Die Aufstände von 1898 hatten zwei Regierungen weggefegt und die Sozialisten stark gemacht. Im Juni 1900 trat der Premier zurück. Einen Monat später wurde König Umberto erschossen. Der Attentäter, ein italienischer Anarchist, war aus New Jersey gekommen, angeblich, um die Opfer von 1898 zu rächen. Thronfolger Viktor Emanuel III. versuchte, eine liberale Ära einzuleiten und die Bürgerrechte zu gewährleisten. Eine entspannte Phase des sozialen Fortschritts schien zu beginnen. Margherita und Cesare blickten erwartungsvoll in die Zukunft. Venedig war ihnen endgültig zu eng geworden. Sie zogen nach Mailand, in das Zentrum der sozialistischen Kämpfe.